Von Stephan Hespos
WOLFENBÜTTEL. Beim Thema HartzIV platzt Sigmar Gabriel (SPD) der Kragen: "Sie stellen komplexe Fragen, und wir dürfen nur kurz antworten. Das erinnert mich an eine Zeitung mit vier großen Buchstaben."
Moderatorin Stephanie Peißker nimmt die Schelte mit Humor. "Gelbe Karte, Herr Gabriel", sagt die kommissarische Lokalchefin unserer Zeitung. Und hat damit die Lacher auf ihrer Seite.
Fachlich fundiert und humorvoll geht es zu bei der Podiumsdiskussion im Bildungszentrum. Auffallend viele junge Menschen mischen sich unter die mehr als 100 Besucher. Die Redaktion hat neben Gabriel die Bundestagskandidaten Jochen-Konrad Fromme (CDU), Jürgen Selke-Witzel (Grüne), Thomas Keller (FDP) und Hermann Fleischer (Linke) eingeladen. Sie sollen präzise Antworten auf komplexe Fragen geben. Nur so können Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden.
Konzentrieren wir uns auf die Differenzen. Fleischer greift HartzIV an und meint: "Die Gesetzgebung treibt Menschen in die Armut." Auch Selke-Witzel findet das "nicht hinnehmbar". Anders als Fleischer plädiert er für 420 Euro Regelsatz, nicht für 500. Für "ganz vernünftig" hält Gabriel den Grünen-Vorstoß. Dennoch verteidigt er Hartz IV: "Wir zahlen heute mehr aus als nach den alten Sozialhilferegeln."
Fromme, dessen Partei im Bund mit der SPD koaliert, verteidigt die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe als "ausgewogenen Kompromiss". Höhere Sätze will er nicht versprechen: "Dann muss man auch sagen, wie das finanziert werden soll." Keller bemängelt derweil, dass Hartz IV-Empfänger zwar hinzu verdienen dürften, die Einnahmen aber der Steuerprogression unterlägen. Er plädiert für ein "Bürgergeld von 662 Euro".
Die Zuhörer lauschen interessiert. Sie stellen den Kandidaten Fragen und beteiligen sich vor und nach der Debatte an Testwahlen. Moderatorin und Bildungszentrums-Leiterin Christiana Steinbrügge will wissen, wie viel Steuern die Wähler nach der Wahl zahlen müssen. Gabriel stellt klar, dass es "auf jeden Fall keine Steuersenkungen geben wird", da das dafür benötigte Geld nicht vorhanden sei. Zugleich warnt er vor Kürzungen, die Schwarz-Gelb im Falle eines Wahlsiegs durchzögen: "Die Leute werden ihre Bundeskanzlerin nicht wiedererkennen."
Fromme wirft Gabriel vor, an die Neidinstinkte der Menschen zu appellieren. Grund: Der SPD-Politiker spricht sich dafür aus, dass Spitzenverdiener künftig mehr zahlen sollen. Fromme strebt an, dass der Steuerfreibetrag für alle Familienmitglieder derselbe sein solle. "Wir wollen die kalte Progression abschaffen." Zugleich warnt er davor, durch Steuererhöhungen das Kapital aus dem Land zu drängen.
Selke-Witzel meint: "Es ist nicht die Zeit für Steuergeschenke." Er plädiert für eine befristete Abgabe Vermögender und will den Solidaritätszuschlag in einen Bildungs-Soli ummodeln.
Fleischer sagt: "Wer große Vermögen hat, muss auch stärker belastet werden." Wer im Jahr mehr als 1 Million Euro bekomme, solle einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent zahlen (aktuell: 47,5 Prozent). Keller betont das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, in der die wirtschaftlich Starken den Schwachen unter die Arme greifen sollen.
Einig sind sich die Kandidaten, dass mehr in Bildung investiert werden müsse. Fromme und Keller fordern ein Festhalten am dreigliedrigen Schulsystem, die anderen Kandidaten wünschen sich mehr Ganztags- und Gesamtschulangebote.
Wenig Beifall aus dem Publikum erhalten Keller und Fromme beim Thema Energieversorgung. Fromme meint: "Wir kommen für einen Übergangszeitraum nicht an der Kernenergie vorbei." Selke-Witzel: "Da muss ich vehement widersprechen." Gemäß Atomkompromiss sollten bis 2020 alle Meiler abgeschaltet werden. "Wir können sie durch regenerative Energien ersetzen." Wichtig sei aber auch, dass der Einzelne Energie spare. Gabriel betont: "Wir wollen aussteigen." Anders als Selke-Witzel plädiert er aber dafür, Kohlekraftwerke zu modernisieren. Fleischer findet: "Die Atomkraft behindert den Ausbau erneuerbarer Energien."
Vor und nach der Debatte haben die Zuhörer gewählt. Die Testwahlen sind nicht repräsentativ und spiegeln allenfalls einen Trend wider.
Quelle: Braunschweiger Zeitung, Wolfenbuettel: 10. September 2009, Wolfenbüttel Lokales, Seite 39
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